Warum „Kaltnaggisch“?
Im Zusammenhang mit dem Kennenlernen des anderen KALTNAGGISCHs im Saarland und damit verbundenen näheren und guten Beziehungen zu dem Stadtteil von Saarbrücken, Herrensohr, wie der Ort in der Amtssprache heißt, ist es dringend die Frage nach dem Spitznamen „Kaltnaggisch“ endgültig zu klären. Auch um die eine oder andere Interpretation zu den Akten zu legen, denn an sich ist alles ganz einfach. Beginnen wir mal mit der Entstehung des Namens im Saarland, dann haben wir auch die richtige Reihenfolge.
Herrensohr wurde 1856 als Bergmannskolonie gegründet. Die Ursache für die Gründung liegt in der sich nach 1850 rasanten Entwicklung der Kohlengruben infolge des Tiefabbaues und dem Bahnbau Saarbrücken – Bingerbrück (Strecke Saarbrücken – Neunkirchen im Jahre 1852, Fertigstellung der Gesamtstrecke im Jahre 1860). Es fehlte damals auf allen Gruben, so auch auf den Gruben Dudweiler, Jägersfreude und Camphausen an Arbeitskräften. Hierzu kam es zu großen Rodungen in diesen Gebieten, ganze Wälder wurden abgeholzt.
Herrensohr ist heute ein Stadtteil von Saarbrücken innerhalb des Stadtbezirks Dudweiler,
Herrensohr, richtigerweise Herrensohr (kommt von Herrenjagd) war das Waldstück des Fürsten von Nassau, bzw. Kaltnaggisch, beide Namen sind in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und werden auch heute noch gebraucht. Herrensohr — Herrenjagd — hatte damals für die Einwohner keinen guten Klang, erinnerte dieser Name sie doch an die fürstlich nassauische Zeit, an das Gerassel der Wagen, das Hundegebell, das Schießen und Schreien der Leute, das Hörnerblasen besonders zur Abendzeit und in den frühen Morgenstunden.
Der Name KALTNAGGISCH für Herrensohr hat verschiedene Entstehungsursachen. Als die Leute mit der Bahn an den abgeholzten Hügeln vorbeifuhren, sollen einige gerufen haben: „Oh, wie kahl und nackig ist das hier.“ Eine andere Deutung ist, dass als das erste Haus auf dem abgeholzten nördlichen Hügel erbaut werden sollte, der Erbauer seine Kameraden, einige Hessen, mitbrachte die ihm helfen sollten an Ort und Stelle nach Steinen zu graben. Die sollen damals ausgerufen haben: „Oh, Louis, wie ist das hier so kahl, so nackig.“
Wie kam schließlich der Name KALTNAGGISCH aus dem Saarland an den Rhein?
Als dann Menschen aus Herrensohr (Kaltnaggisch) — die ersten schon mit dem Bau der Strecke Bingerbrück – Saarbrücken Mitte des 19. Jahrhunderts — auf jeden Fall aber mit dem späteren Betrieb der Eisenbahn ans Rhein-Nahe-Eck kamen, wagten sie, als sie den Ort am Rhein erblickten, den Ausspruch: „ … das iss jo wie bei uns inn Kaltnaggisch“. Dabei meinten sie aber nicht die wenigen Felsen, die zur Nahe hin den Ort begrenzten, sondern eher die Struktur der Eisenbahnersiedlung und den dahinterliegenden Wald, was sie an ihren saarländischen Ort erinnerte.
Und die Bingerbrücker? Die haben dann den liebevollen Begriff von ihren saarländischen Bahnkollegen als zweiten Namen übernommen. Auch weil sie — die meisten am Anfang auf jeden Fall, wenige noch bis heute — mit der Wortschöpfung Bingerbrück haderten. Seinerzeit Ende des 19. Jahrhunderts, wurde ihnen nämlich der über 1000 Jahre alte Name Rupertsberg, der sowohl für das Kloster der HI. Hildegard als auch für die spätere Ortschaft galt, durch einen Verwaltungsakt genommen.
Alle anderen Bingerbrücker Deutungen zu KALTNAGGISCH, wie auch die mir aus der Kinderzeit bekannte Deutung, dass das Wort vom kalten Wisperwind käme, der durchs Rheintal bläst oder gar Versuche den Begriff sprachgeschichtlich auf die keltischen Bezeichnungen NACK oder gar GALNACK zurückzuführen, entbehren einer wissenschaftlichen Beweisführung, da keinerlei Hinweise in dem Schriftgut der letzten Jahrhunderte bis zum Bau der Eisenbahnlinie Bingerbrück – Saarbrücken Mitte des 19. Jahrhunderts, auf den Begriff KALTNAGGISCH hinweisen. Aber die Gedanken sind bekanntlich frei. Im Heimatjahrbuch des Landkreises Mainz – Bingen 2018 ist zu dieser Begriffsdeutung ein Artikel mit dem Titel „Klein-Italien. Warum der Binger Stadtteil Bingerbrück Kaltnaggisch heißt“ (S.232 – S.233) nachzulesen. Sehr unwahrscheinlich ist, dass zwei Ortschaften, die gerade mal 120 km auseinanderliegen
beide etwa zu gleichen Zeit,
beide an der gleichen Bahnstrecke liegend,
beide von der Bevölkerungsstruktur vergleichbar
etwa zur gleichen Zeit eine identische Ortsbezeichnung kreieren, die dann auch noch auf keltische Wurzeln zurückgehen sollen.
Letztendlich ist es für beide KALTNAGGISCH nur wichtig, dass dieses Wort dazu geführt hat, dass wir uns kennen und auch schätzen gelernt haben. Deshalb freuen wir uns jetzt schon, dass eine Delegation aus dem saarländischen und (Ursprungs-) Kaltnaggisch am 11. Mai 2019 Bingerbrück und Bingen besuchen wird.